Epipogium
aphyllum ist wohl die bizarrste Orchidee unserer Heimat. Wer sie einmal
im dunklen Wald zwischen vermoderndem Holz entdeckt hat - und das kommt
wirklich selten vor - wird fasziniert sein von der zerbrechlichen und
doch zugleich erhabenen Erscheinung. Doch erst wenn man vor ihr auf
die Knie geht und genauer hinsieht wird klar, welches Wunderwerk der
Natur man da vor sich hat, und man fragt sich unwillkürlich, wie
dieser dünne, fast durchscheinende Stiel die vergleichsweise großen
Blüten tragen kann ohne zu knicken. Aber noch manch anderes ist
absonderlich. So besitzt die Pflanze keinerlei Blattgrün. Das Einsparen
von Chlorophyll und damit der Verzicht auf Selbstversorgung ist allerdings
teuer erkauft, denn damit bleibt dieser Saprophyt sein Leben lang auf
die Symbiose mit einem bestimmten Pilz angewiesen. Hier heißt
es also nicht "ohne Moos nix los", sondern vielmehr "ohne
Pilz nix los". Noch weiß man nicht genau, was der Pilz für
seine Dienste vom Widerbart erhält. Würde der Pilz ganz leer
ausgehen, wäre die Orchidee sogar ein Parasit, was nicht gerade
freundlich klingt in Anbetracht der Schönheit der Pflanze. Nicht
einmal Wurzeln hat sie, sondern nur ein bräunliches, korallen-
oder geweihartig verzweigtes, mit Schuppenblättern besetztes Rhizom.
Auch bei den Blüten geht die Art andere Wege als die meisten Arten
der Gattung Orchidaceae. Ihre Lippen weisen nämlich nach oben,
so wie das übrigens auch bei den Kohlröschen der Fall ist.
Wissenschaftlich sagt man, die Blüten sind nicht resupiniert. Beim
Widerbart bedeutet das, dass die Narbe über den Pollinien liegt,
so dass bei voll entwickelten Pflanzen keine Selbstbestäubung vorkommen
kann. Die Stängel und Fruchtknoten sind meist bräunlich überlaufen,
die Blüten weißlich-gelblich mit einer mehr oder weniger
ausgeprägten zartrosa Strichzeichnung auf der wulstigen Lippe.
Diese Orchidee ist
einmalig in unserer Flora und unverwechselbar. Sie steht einzeln, manchmal
aber auch in dichten Gruppen von bis zu 30 Stängeln. Das kommt
daher, dass das Rhizom fadendünne, weißliche Ausläufer
treibt und sich die Pflanze über Knöllchen vegetativ vermehrt,
so dass oft größere Gruppen entstehen. Und noch etwas ist
bemerkenswert: In ungünstigen Jahren bleibt die Pflanze im Untergrund
verborgen. Entweder sie setzt mit der Blüte aus, oder sie blüht
unterirdisch. So kann es vorkommen, dass an bekannten Plätzen über
Jahre keine einzige Pflanze zu entdecken ist, sie dann aber plötzlich
wieder in beachtlicher Zahl - im wahrsten Sinne des Wortes - "auftaucht".
Offensichtlich benötigt sie schneereiche Winter und ein feuchtes
Frühjahr für den Austrieb.
Die
Art ist in Mittel- und Südeuropa weit verbreitet, kommt außerdem
im Kaukasus, Himalaja, ostwärts durch das temperate Asien bis Japan,
Korea bis zur Halbinsel Kamtschatka vor. Sie ist damit ein submediterran
mittelatlantisch subatlantisch zentraleuropäisch karpatisch sarmatisch
mittelsibirisch skandinavisches Florenelement. In den mediterranen und
kontinentalen Klimazonen fehlt sie völlig, denn sommerliche Hitze
und Trockenheit mag sie gar nicht. Sie braucht Schatten, höhere
Luftfeuchtigkeit und feuchte, nährstoff- und meist basenreiche
Böden. Damit aber noch nicht genug der Ansprüche. Es muss
schon noch eine dicke Humusschicht vorhanden sein. Damit ist klar, wo
man sie finden kann: In schattigen, moosigen Laub- und Nadelwäldern,
oft vergesellschaftet mit Corallorhiza trifida, die einige Wochen vor
ihr blüht. Allerdings ist der Widerbart extrem selten, so dass
sich bei uns in Mitteleuropa die Orchideenfreunde an den bekannten Plätzen
quasi die Klinke in die Hand geben. Relativ gesehen etwas häufiger
findet man ihn auf der Schwäbischen Alb und in den Alpen, insbesondere
in Kärnten und Slowenien, wo noch individuenreiche Bestände
vorkommen. In Baden-Württemberg ist die Art als stark gefährdet
eingestuft.
Die
auffällige Pflanze trägt im Volksmund viele Namen: Neben "Widerbart"
(in Anspielung an die nach oben gedrehte Blütenlippe) z.B. auch
"Ohnblatt", weil sie ja tatsächlich keine Blätter
hat. Sogar den wenig schmeichelnden Namen "Oberkinn" hat man
ihr verpasst. Treffend, wenngleich auch nicht besonders charmant, ist
die Bezeichnung "Bananenorchis", die auf den schwachen Duft
des Nektars nach fermentierten Bananen anspielt. Bestäubt werden
sollen die Blüten durch Hymenopteren, wobei der Fruchtansatz im
dichten Wald meist sehr gering ist. Zur Gattung Epipogium gehören
übrigens weltweit 5 Arten. Eine davon ist Epipogium roseum, die
in den Tropen und Subtropen der Neuen Welt vorkommt. Der Widerbart blüht
in Höhen von 600 bis 1.900 Metern, im Himalaja steigt er sogar
4.000 Meter hinauf. Ab Anfang Juli bis Mitte August durchbrechen die
Blütensprosse mit bereits unterirdisch entwickelten, aber abgewinkelten
Blütentrauben den Boden, strecken sich und stellen sich in die
aufrechte Lage. Die Chromosomenzahl beträgt 2n=68. Die Fruchtreife
setzt übrigens schon während der Blüte ein und dauert
2 bis 3 Wochen, was ungewöhnlich kurz ist. Bereits nach ca. 4 Wochen
hat die Pflanze vollständig zurückgezogen und nichts erinnert
mehr an die Pracht. Hybriden sind verständlicherweise nicht bekannt
und auch nicht zu erwarten. Auch Varietäten sind selten. Bekannt
sind rein weißblühende und -stängelige Exemplare, die
allerdings sehr selten sind.