Nigritella rubra subsp. widderi | |
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Gestatten Sie uns im Mai einen kleinen Vorgriff auf den Juli. Die Kohlröschen gehören bekanntlich zu den Bergblumen, und die blühen eben erst etwas später im Jahr. Zuerst muss nämlich der Schnee weg, dann erst geht’s mit großen Schritten Richtung Blüte. Nachdem wir schon mehrfach unsere Bewunderung für die Gattung Kohlröschen verkündet und schon verhältnismäßig viele Vertreter dieser Gattung bearbeitet haben, soll es diesmal um ein im Alpentraum vergleichsweise seltenes Taxon gehen. Widders Kohlröschen wurde 1985 als Nigritella widderi von Teppner und Klein im Artrang neu beschrieben und wird heute als Taxon allgemein anerkannt. Wir bevorzugen allerdings den Unterartrang und stellen es in die Gruppe Nigritella rubra. Neuerdings wird das Taxon, wie alle anderen Kohlröschen auch, zur Gattung Gymnadenia gestellt. Über all das kann man wie so oft trefflich streiten. Das Verbreitungsgebiet des nach dem österreichischen Botaniker Professor Felix J. Widder benannten Taxons hat sich seit seiner Beschreibung stetig erweitert. Ursprünglich wurde es als Endemit der Ostalpen, der Nördlichen Kalkalpen, der Steiermark, der Hochschwab-Gruppe und des Trenchtling angesehen. Dann kamen weitere Funde in südlicheren Gefilden dazu, so zum Beispiel in den Abruzzen in Mittelitalien. In wie weit Funde aus den Dolomiten und dem Veneto zu dieser Unterart zu zählen sind, ist bislang umstritten, weil sich diese Populationen doch signifikant von der Nominatform unterscheiden. Hier sind wir bei einem ganz speziellen Problem angelangt. Das Taxon hat einen tetraploiden Chromosomensatz (2n = 4x = 80) und gehört zu den Apomikten, es gibt also in der Regel keine Fremdbestäubung. Und bei dieser Konstellation kommt es zur Ausbildung verschiedener lokaler Sippen, die sich mehr oder weniger morphologisch unterscheiden. Etwas spöttisch sagen manche, jeder Berg hätte sein eigenes Widders Kohlröschen. Nun, ganz so dramatisch ist es sicher nicht, aber auch nicht ganz aus der Luft gegriffen. Einige dieser Rassen haben wir in unserem Bildarchiv zum Vergleich bereit gestellt. Für unsere Orchidee des Monats sind wir im Heimatland geblieben. Seit längerem bekannt ist das Vorkommen am Geigelstein, einer der wenigen Fundorte in den nördlichen Kalkalpen. Im Vergleich zu anderen Populationen sind die Pflanzen dort am steilen südexponierten Hang auffallend klein- und vielblütig. Zudem sind die Lippen oft "röhrenförmig", einige Exemplare erinnern sogar etwas an Nigritella archiducis-ioannis. Stellen Sie mal die Sippen gegenüber, und Sie werden sehen. Die rosa Blütenfarbe zeichnet aber alle Sippen dieser Unterart aus. Wer sie zu Gesicht bekommen will, muss erstens für ein Kohlröschen relativ früh auf die Suche gehen. Mitte bis Ende Juni und damit immerhin rund 14 Tage vor Nigritella rhellicani und immer noch etwas früher als Rotes und Österreichisches Kohlröschen stehen die aparten Pflanzen in der Blaugrashalde in Blüte. Zweitens braucht man Bergschuhe und ein wenig Ausdauer, denn ohne Mühe offenbaren sich diese Wunder der Berge nicht. Wir waren beispielsweise am 29. Juni 2010 zum letzten Mal dorthin unterwegs, in brütender Hitze im weitgehend baumfreien Gelände. Das treibt den Schweiß aus den Poren! Aber die "Leidensgenossen" wissen: Wenn unsere Objekte der Begierde dann vor uns stehen, sind die Strapazen schnell vergessen. Generell kann man sagen, dass das - wie alle Kohlröschen - stark nach Vanille duftende Widders Kohlröschen nur oberhalb rund 1.300 Höhenmeter genügend Konkurrenzkraft hat. Hinauf wagt es sich dann bis immerhin 2.150 Meter, ein echter Vertreter der Alpinflora also, der Gipfel und Grate mag. Der Boden muss kalkhaltig, flachgründig und mäßig trocken bis frisch sein, was in dieser Höhenlage meistens einem relativ schwachwüchsigen und lückigen Blaugrasrasen entspricht. Hybriden sind unseres Wissens bislang nicht zweifelsfrei nachgewiesen. Ausgeschlossen ist das trotz der Apomixie aber nicht. Insbesondere Gymnadenia conopsea steht ja offensichtlich den Kohlröschen sehr nahe. Also: Augen offen halten! | |