Neottia nidus-avis
(Linné) L.C.M. Richard 1817

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Franken (D), 19. Mai 2001


Wir bleiben in heimischen Gefilden, denn auch die Orchidee des Monats Juli kommt in einigen Gegenden Deutschlands gar nicht so selten vor. Will man sie finden, muss man sich allerdings in den schattigen Wald bemühen. Aber nicht in jeden, denn man muss, wie bei allen anderen Orchideenarten auch, schon ungefähr wissen, wo man mit ihr rechnen kann. Ihr Verbreitungsgebiet umfasst Europa, Nordafrika und Vorderasien von der temperaten bis zur meridionalen Zone, wo sie weit verbreitet ist, und umfasst auch die temperate Zone bis Zentralsibirien, Kaukasien, Nordwestpersien (Pontusgebirge und Marmara-Region) und das gemäßigte Asien bis Korea und Japan. In den nordeuropäischen Nadelwaldgebieten der borealen Zone ist sie seltener. Es ist ein meridional/montal submeridional temperates (boreales) Florenelement. Insgesamt gibt es 9 Arten in der Gattung Neottia, wobei nur Neottia nidus-avis in Europa vorkommt. Die anderen Arten wachsen im Himalaya-Gebiet und in Ostasien.

Die Art ist unverwechselbar und relativ konstant im Erscheinungsbild und wirkt "wie kunstvoll aus dunklem Bienenwachs geformt", wie Danesch einst so schön beschrieben hat in seinem Buch über die Orchideen der Schweiz. Dabei ist den meisten Amateurbotanikern zuerst gar nicht klar, dass es sich bei dieser ungewöhnlichen Pflanze tatsächlich um eine Orchidee handelt. Von weiter betrachtet würde man sie insbesondere wegen des fehlenden Blattgrüns und des Wuchses eher zur Gattung der Sommerwurzgewächse (Orobranche) stecken. Die nähere Betrachtung zeigt aber sehr schnell den charakteristischen Blütenbau aller Orchideen. Es ist eben ein weiterer Beleg für die ungeheure Formen- und Farbenvielfalt und unterstreicht, dass die Orchideen zu den interessantesten Familien im Pflanzenreich gehören. Der bräunliche, in den Zellen als Körnchen eingelagerte Farbstoff steht übrigens dem Chlorophyll sehr nahe. Schmarotzer ist Neottia nidus-avis indes keiner, sondern eine Moderpflanze oder auch Saprophyt genannt. Dies bedeutet, dass die Pflanzen ihr ganzes Leben lang auf die Mithilfe ihres Wurzelpilzes angewiesen sind, wie auch alle anderen Saprophyten unserer Flora.

Die Art kommt oft vergesellschaftet mit Cephalanthera damasonium, manchmal auch mit deren rotblütiger Schwester Cephalanthera rubra vor und charakterisiert eine besonders artenreiche Variante des Buchenwaldes, nämlich den Orchideen-Buchenwald, eine Vegetationsgesellschaft, die schwerpunktmäßig im Süden Deutschlands in den Kalkgebieten und meist in wärmebegünstigten Lagen vorkommt. Dies sind beispielsweise die südlich exponierten Hänge des Albtraufs, wo Neottia nidus-avis und auch Cephalanthera damasonium mit hoher Stetigkeit, aber nicht in großer Dichte im Buchenwald vorkommen. Sie blüht im Mai/Juni, in höheren Lagen bis 2000 Meter auch im Juli und bevorzugt frische, nährstoff- und basenreiche, vorzugsweise kalkhaltige Lehmböden. Wie andere Orchideenarten auch reagiert sie empfindlich auf negative Wuchsbedingungen. So kann es vorkommen, dass in schlechten Jahren nur wenige Exemplare zur Blüte kommen, während sie in günstigen Jahren ganze Trupps bilden kann.

Insbesondere in den geschlossenen Hallen-Buchenwäldern, wo die Krautschicht wegen des Lichtmangels reduziert ist, ist die Nestwurz und übrigens auch das weiße Waldvögelein kaum zu übersehen, wenn man durch die Wälder streift. Und weil die Art keine Photosynthese nötig hat und deshalb Sonnenlicht nicht braucht, kommt sie noch an Stellen zur Blüte, wo anderen Pflanzen längst die Puste (sprich das Licht) ausgegangen ist. Wenn dann noch einzelne Sonnenstrahlen durchs Blätterdach an die richtige Stelle dringen, scheinen die Exemplare wie von Zauberhand ins Scheinwerferlicht gesetzt. Dann kann man sie auch am besten fotografieren, denn gute Fotos waren bislang wegen der schlechten Lichtverhältnisse und des spezifischen Lichtspektrums unter dem Blätterdach schwer zu schaffen. Mit moderner digitaler Aufnahme und Bearbeitungstechnik ist es jetzt freilich auch im dunkleren Wald leichter geworden, gute Bilder zu schießen. Manche mögen das bedauern, andere verherrlichen diese Errungenschaft. Der Autor ist mittlerweile auch auf Digitaltechnik umgestiegen. Es kommt eben drauf an, wie man sie einsetzt und was man daraus macht. Eines bleibt auf keinen Fall erspart: Das richtige Motiv muss man nach wie vor selbst finden, es läuft einem nicht zu.

Neottia nidus-avis ist seit langem als Bestandteil der heimischen Flora bekannt. Und so nimmt es nicht Wunder, dass die Art schon in den frühesten Florenwerken erwähnt wird. In dem Werk über die Orchideen der Schweiz aus dem Jahre 1984 (Silva-Verlag, Zürich) beschreibt Danesch das Ausbreitungsverhalten der Vogelnestwurz wie folgt: "Die Blütenlippe ist zweigeteilt und am Grunde ausgehöhlt; das Grübchen der Lippe ist mit Nektar gefüllt. Bei kühler Witterung wird die Nektarabsonderung gebremst. Man kann an ihnen nach Honig duftenden Blüten auch Bestäuber, meist Fliegen, beobachten. Aber es ist zu verstehen, dass der Nestwurz auch die Möglichkeit zur Selbstbestäubung gegeben ist. Ihre Wuchsorte sind dunkel und wenig anziehend für Insekten. Die Art der Bestäubung wird offenbar durch eine Eigenheit des Rostellums geregelt. In frisch geöffneten Blüten sondert es bei Berührung einen Tropfen Klebflüssigkeit ab, der sich den Pollenmassen anheftet. Nach etwa vier Tagen ermüdet das Rostellum, es gibt keinen Klebetropfen mehr ab. Der abbröckelnde Pollen gelangt nun ungehindert auf die nierenförmige Narbenfläche. Aber die Nestwurz vermehrt sich auch auf vegetativem Weg. Sie tut dies auf ungewöhnliche Weise, indem Spitzen ihrer Wurzeln, die einen walzlichen Wurzelstock strahlig umgeben, Adventivknospen treiben können, die zu neuen Rhizomen werden. Auf diese Weise erneuert die Pflanze sich – denn der Wurzelstock stirbt meist nach der Fruchtreife ab-, zugleich vermehrt sie sich und dringt in neue, an Nährstoffen reichere Gebiete vor." Die vorjährigen Fruchtstände überdauern übrigens meist den Winter und verraten im nächsten Jahr noch den alten Wuchsort. Bleibt noch zu ergänzen, dass sogar unterirdische Bestäubungen beobachtet wurden und offensichtlich auch Ameisen als Bestäuber tätig sind.

Der deutsche gebräuchliche Name "Vogelnestwurz" weist übrigens auf eine weitere Besonderheit hin. Während nämlich die meisten Orchideen, wie beispielsweise der Gattung Ophrys, Orchis oder Dactylorhiza mehr oder weniger kompakte Erdknollen ausbilden, hat die vorgestellten Art einen reich gegliederten Wurzelstock, der an ein Vogelnest erinnert und ihr den Namen gegeben hat. Im Übrigen ist die Art ist so einmalig, dass bislang noch keine Hybriden bekannt geworden sind. Dennoch kann der Liebhaber genetischer Abweichungen auch hier auf seine Kosten kommen, denn ganz, ganz selten findet man Exemplare, die den braunen Grundfarbstoff nicht synthetisieren können. Solche Exemplare sind schwefelgelb bis weißlich und natürlich besondere Highlights für Orchideenliebhaber. Der Chromosomensatz beträgt 2n=36.

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Schwäbische Alb, 4. Juni 2006


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Schwäbische Alb, 4. Juni 2006


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Schwäbische Alb, 4. Juni 2006


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Franken (D), 19.5.2001