Epipogium aphyllum |
SWARTZ 1814
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Epipogium aphyllum ist wohl die bizarrste Orchidee unserer Heimat. Wer sie einmal im dunklen Wald zwischen vermoderndem Holz entdeckt hat - und das kommt wirklich selten vor - wird fasziniert sein von der zerbrechlichen und doch zugleich erhabenen Erscheinung. Doch erst wenn man vor ihr auf die Knie geht und genauer hinsieht wird klar, welches Wunderwerk der Natur man da vor sich hat, und man fragt sich unwillkürlich, wie dieser dünne, fast durchscheinende Stiel die vergleichsweise großen Blüten tragen kann ohne zu knicken. Aber noch manch anderes ist absonderlich. So besitzt die Pflanze keinerlei Blattgrün. Das Einsparen von Chlorophyll und damit der Verzicht auf Selbstversorgung ist allerdings teuer erkauft, denn damit bleibt dieser Saprophyt sein Leben lang auf die Symbiose mit einem bestimmten Pilz angewiesen. Hier heißt es also nicht "ohne Moos nix los", sondern vielmehr "ohne Pilz nix los". Noch weiß man nicht genau, was der Pilz für seine Dienste vom Widerbart erhält. Würde der Pilz ganz leer ausgehen, wäre die Orchidee sogar ein Parasit, was nicht gerade freundlich klingt in Anbetracht der Schönheit der Pflanze. Nicht einmal Wurzeln hat sie, sondern nur ein bräunliches, korallen- oder geweihartig verzweigtes, mit Schuppenblättern besetztes Rhizom. Auch bei den Blüten geht die Art andere Wege als die meisten Arten der Gattung Orchidaceae. Ihre Lippen weisen nämlich nach oben, so wie das übrigens auch bei den Kohlröschen der Fall ist. Wissenschaftlich sagt man, die Blüten sind nicht resupiniert. Beim Widerbart bedeutet das, dass die Narbe über den Pollinien liegt, so dass bei voll entwickelten Pflanzen keine Selbstbestäubung vorkommen kann. Die Stängel und Fruchtknoten sind meist bräunlich überlaufen, die Blüten weißlich-gelblich mit einer mehr oder weniger ausgeprägten zartrosa Strichzeichnung auf der wulstigen Lippe. Diese Orchidee ist einmalig in unserer Flora und unverwechselbar. Sie steht einzeln, manchmal aber auch in dichten Gruppen von bis zu 30 Stängeln. Das kommt daher, dass das Rhizom fadendünne, weißliche Ausläufer treibt und sich die Pflanze über Knöllchen vegetativ vermehrt, so dass oft größere Gruppen entstehen. Und noch etwas ist bemerkenswert: In ungünstigen Jahren bleibt die Pflanze im Untergrund verborgen. Entweder sie setzt mit der Blüte aus, oder sie blüht unterirdisch. So kann es vorkommen, dass an bekannten Plätzen über Jahre keine einzige Pflanze zu entdecken ist, sie dann aber plötzlich wieder in beachtlicher Zahl - im wahrsten Sinne des Wortes - "auftaucht". Offensichtlich benötigt sie schneereiche Winter und ein feuchtes Frühjahr für den Austrieb. Die Art ist in Mittel- und Südeuropa weit verbreitet, kommt außerdem im Kaukasus, Himalaja, ostwärts durch das temperate Asien bis Japan, Korea bis zur Halbinsel Kamtschatka vor. Sie ist damit ein submediterran mittelatlantisch subatlantisch zentraleuropäisch karpatisch sarmatisch mittelsibirisch skandinavisches Florenelement. In den mediterranen und kontinentalen Klimazonen fehlt sie völlig, denn sommerliche Hitze und Trockenheit mag sie gar nicht. Sie braucht Schatten, höhere Luftfeuchtigkeit und feuchte, nährstoff- und meist basenreiche Böden. Damit aber noch nicht genug der Ansprüche. Es muss schon noch eine dicke Humusschicht vorhanden sein. Damit ist klar, wo man sie finden kann: In schattigen, moosigen Laub- und Nadelwäldern, oft vergesellschaftet mit Corallorhiza trifida, die einige Wochen vor ihr blüht. Allerdings ist der Widerbart extrem selten, so dass sich bei uns in Mitteleuropa die Orchideenfreunde an den bekannten Plätzen quasi die Klinke in die Hand geben. Relativ gesehen etwas häufiger findet man ihn auf der Schwäbischen Alb und in den Alpen, insbesondere in Kärnten und Slowenien, wo noch individuenreiche Bestände vorkommen. In Baden-Württemberg ist die Art als stark gefährdet eingestuft. Die auffällige Pflanze trägt im Volksmund viele Namen: Neben "Widerbart" (in Anspielung an die nach oben gedrehte Blütenlippe) z.B. auch "Ohnblatt", weil sie ja tatsächlich keine Blätter hat. Sogar den wenig schmeichelnden Namen "Oberkinn" hat man ihr verpasst. Treffend, wenngleich auch nicht besonders charmant, ist die Bezeichnung "Bananenorchis", die auf den schwachen Duft des Nektars nach fermentierten Bananen anspielt. Bestäubt werden sollen die Blüten durch Hymenopteren, wobei der Fruchtansatz im dichten Wald meist sehr gering ist. Zur Gattung Epipogium gehören übrigens weltweit 5 Arten. Eine davon ist Epipogium roseum, die in den Tropen und Subtropen der Neuen Welt vorkommt. Der Widerbart blüht in Höhen von 600 bis 1.900 Metern, im Himalaja steigt er sogar 4.000 Meter hinauf. Ab Anfang Juli bis Mitte August durchbrechen die Blütensprosse mit bereits unterirdisch entwickelten, aber abgewinkelten Blütentrauben den Boden, strecken sich und stellen sich in die aufrechte Lage. Die Chromosomenzahl beträgt 2n=68. Die Fruchtreife setzt übrigens schon während der Blüte ein und dauert 2 bis 3 Wochen, was ungewöhnlich kurz ist. Bereits nach ca. 4 Wochen hat die Pflanze vollständig zurückgezogen und nichts erinnert mehr an die Pracht. Hybriden sind verständlicherweise nicht bekannt und auch nicht zu erwarten. Auch Varietäten sind selten. Bekannt sind rein weißblühende und -stängelige Exemplare, die allerdings sehr selten sind. | |