Epipactis helleborine
Linné (Crantz) 1769, Engel 1984

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Stuttgart (D), 9.8.2002


Die letzten beiden Orchideen des Monats, Ophrys philippi und Dactylorhiza savogiensis hatten ein verhältnismäßig kleines Verbreitungsgebiet. Mit Epipactris helleborine wollen wir uns diesmal zur Abwechslung einer Art zuwenden, die eher gewöhnlich und in Europa weit verbreitet ist und eine ungewöhnlich große ökologische Amplitude besitzt. Man kann sie in Europa von der meridionalen bis zur temperaten Zone finden, in Skandinavien, in der temperaten Zone ostwärts bis Zentralsibirien und Dahurien, vom Kaukasus bis nach Pakistan und Turkestan. In Amerika und Kanada ist die Breitblättrige Stendelwurz inzwischen auch aufgetaucht, wobei man eine Ansalbung vermutet. Es handelt sich damit um ein meridional/montan submeridional temperat skandinavisches Florenelement. Epipactis helleborine wächst vorrangig in verschiedenen Waldtypen auf frischen, nährstoffreichen und tiefgründigen Böden bis hinauf in 1.600 Höhenmeter. In Frankreich wurde sie sogar in über 2.300 Höhenmeter gefunden und aus Sikkim sind Fundmeldungen aus rund 4.000 Höhenmeter (!) bekannt.

Auf Grund ihrer vergleichsweise geringen Standortsansprüche kann man sie sogar in Gärten, Friedhöfen oder Parkanlagen finden, wobei sie offensichtlich an Standorten mit Hasel (Corylus avellana) besonders gut gedeiht. In Baden-Württemberg ist sie vielleicht die häufigste und am weitesten verbreitete Orchideenart überhaupt. Es gibt es nur wenige Quadranten ohne Vorkommen dieser Art, beispielsweise im mittleren Schwarzwald. Im Süden Deutschlands blüht sie im Vergleich zu anderen Stendelwurzarten relativ spät (Hauptblütezeit Ende Juli bis Mitte August). Nur Epipactis purpurata blüht rund 10 Tage später.

Ob dieser weiten Verbreitung wundert es nicht, dass die Art bereits 1769 beschrieben wurde. Wenn die Leser aber jetzt meinen, damit sollte alles erforscht und eigentliche alle Unklarheiten beseitigt sein, liegen sie im Irrtum. Es handelt sich eben nicht um eine "gute" Art. Über die Problematik der Gattung Epipactis haben wir ja schon öfters berichtet. Epipactis helleborine macht da keine Ausnahme, im Gegenteil, wie die nachfolgenden Ausführungen deutlich machen. Die typische, im Wald wachsenden Epipactis helleborine sind ja noch vergleichsweise gut zu identifizieren. Die Blätter sind breit ovalförmig, dunkelgrün und oberseits stark glänzend. Der Blütenstand ist dichtblütig, und während die Blütenfarbe kein gutes Kriterium ist, sollte man auf die Rostelldrüse achten. Die ist bei dieser Art nämlich immer (oder doch nicht immer?) vorhanden und bleibt auch relativ lange funktionsfähig. Im Wald gibt es keine andere Art, mit der man die typische Epipactis helleborine verwechseln könnte. Problematisch ist sie dennoch, weil sie eine relativ große Bandbreite im Erscheinungsbild hat und offensichtlich nicht nur im beschatteten Wald vorkommt. Die Spekulationen über die verschiedenen Ausprägungen lassen eigentlich nur den Schluss zu, dass nicht alle Bestände und nicht alle alle Exemplare innerhalb der Bestände eindeutig zuordenbar sind.

So wachsen an manchen Standorten, beispielsweise im Jura (Schwäbische Alb) neben den typisch ausgeprägten Pflanzen im Buchenwald Exemplare auf Lichtungen und vor allem auf Wiesen und Halbtrockenrasen und an besonnten Waldrändern, die sich morphologisch deutlich von der Nominatform unterscheiden. Sie blühen, wenigstens auf der Alb, rund 10 Tage früher, der Standort ist oft sehr flachgründig (im Gegensatz zum Wald). Die Blätter sind deutlich kleiner, weniger oval und heller in der Farbe. Die Blüten jedoch sind nicht signifikant verschieden zur Nominatform im Wald, was dazu geführt hat, dass diese Exemplare bislang als Epipactis helleborine geführt wurden. Manchmal wird sie auch als die "Sonnenform" von Epipactis helleborine bezeichnet, wobei nicht klar ist, ob diese Pflanzen genetisch verschieden sind oder ob es sich tatsächlich nur um Anpassungen an die Lichtverhältnisse handelt.

Ob die Bezeichnung Epipactis helleborine var. orbicularis (nach Delforge) mit diesen Pflanzen identisch ist, können wir nicht beurteilen. Wir selbst haben an einem Standort solche Pflanzen gefunden, sind aber nach der Blütenanalyse eher der Meinung, es handelt sich um Übergangsformen zu Epipactis muelleri, die dort und auch an ähnlichen Standorten meist ebenfalls vorkommt. Zumindest die Rostelldrüse war nicht in dem Umfang vorhanden wie bei den "Waldpflanzen" und die Blätter zeigen manchmal die typische Randwellung der Epipactis muelleri. Demzufolge führen wir diese Exemplare in www.orchis.de auch als Hybriden. Erschwert wird die Situation durch eine weitere Art, nämlich Epipactis distans, die wohl besser Epipactis helleborine ssp. distans heißen sollte. Sie ist oft nur schwer von Sonnenformen der Nominatform zu unterschieden und bildet mit der Nominatform häufig Übergangspopulationen. So schreibt Kollege Presser in seinem Werk über die Orchideen Mitteleuropas und der Alpen, in dem übrigens zahlreiche unterschiedliche Ausprägungen von Epipactis helleborine gezeigt werden: "Die breitblättrige Stendelwurz scheint eine Sammelart unterschiedlicher Typen zu sein, eine sichere Abgrenzung, auch zur Kurzblättrigen Stendelwurz (= Epipactis helleborine ssp. distans) ist oft unmöglich oder zumindest sehr schwierig".

In diesem Zusammenhang muss man auch über Epipactis helleborine Varietät minor diskutieren. Die französischen Kollegen (Engel) haben 1984 diesen Namen Pflanzen gegeben, die in den Vogesen auf saurem Buntsandstein vorkommen und meist deutlich zierlicher in Habitus und Wuchs sind. Insbesondere aber sind die Blüten deutlich kleiner und die Pflanzen sollen blühen, wenn die Nominatform längst vollständig verblüht ist (August bis Mitte September, 14 Tage Unterschied). 1992 hat sie der Erstautor gar in der Rang einer Subspezies gehoben.

Im jüngsten AHO-Heft ist zu dieser Problematik ein interessanter Artikel von Herrn Wucherpfennig erschienen, der mit Ausschlag gebend war, uns diesmal mit dieser Art zu befassen. Beschrieben werden dort verschiedene von der Nominatform abweichende Bestände, die teilweise vor, teilweise nach ihr zur Blüte gelangen und wesentlich lockerblütiger und auch kleinblütiger sind. Sie werden mit den von Engel beschriebenen Epipactis helleborine ssp. minor verglichen und es zeigt sich, vom unterschiedlichen Blühzeitpunkt abgesehen, eine weitgehende Übereinstimmung. Der Bericht kommt zum Fazit, dass es sich eher um standörtlich angepasste Ökotypen handelt als um eigene Subspezies oder gar Arten. Auf Grund unserer Erfahrung im Süddeutschen Raum würden wir dem zustimmen und sogar noch einen Schritt weitergehen und kritisch hinterfragen, ob nicht auch die eine oder andere als eigenständig beschriebene Art hierzu zu zählen wäre. Aber hier sind wir wieder beim Dauerstreit unter den Systematikern angelangt, wann der Artrang gerechtfertigt ist und wann nicht.

Aus eigener Anschauung haben wir Zweifel, ob die als Epipactis helleborine ssp. minor bezeichneten Pflanzen noch zur Bandbreite von Epipactis helleborine s.l. zählen oder ob nicht der Rang einer Varietät gerechtfertigt ist. Ob man so weit gehen muss wie Herr Delforge, der diese Exemplare unter dem Namen Epipactis voethii subsummiert, mag allerdings dahingestellt sein. Herr Wucherpfennig jedenfalls hat deutliche Merkmale herausgearbeitet, die Epipactis helleborine ssp. minor von Epipactis voethii unterscheiden.

Wir fanden am 2. August 2003 an einem der bekannten Standorte in den Nordvogesen an einer sonnigen Straßenböschung, aber und auch innerhalb des Waldes (!) rund 20 blühende und viele sterile Epipactis helleborine ssp. minor (siehe Foto). In nur 250 Metern Meereshöhe müssten in diesem außergewöhnlich warmen Jahr alle "normalen" Epipactis helleborine schon längst verblüht sein. An einem anderen, beschatteten Standort im Schwarzwald, ebenfalls auf saurem Untergrund, den wir wenige Stunden später besucht haben, waren in rund 550 Meter Meereshöhe alle Stendelwurzpflanzen bereits restlos abgeblüht, ja teilweise bereits fast samenreif. Dies ist angesichts des Datums schon sehr bemerkenswert, beginnt die Fruchtreife normalerweise erst Mitte Oktober! An diesem Standort übrigens kommen neben den typischen großwüchsigen Pflanzen und sterilen Trieben auch kleinwüchsige Exemplare vor, die den in den Vogesen vorkommenden Exemplaren im Habitus recht ähnlich sind. Auch diese waren aber bereits restlos abgeblüht.

Damit ist das Rätsel nicht gelöst. Entweder es kommen eben neben großwüchsigen Exemplaren auch Mickerexemplare im selben Bestand vor und es handelt sich alles um Epipactis helleborine. Oder aber (mindestens) die Pflanzen im Elsass sind eine Varietät (oder Subspezies??); oder aber sie gehören schlicht zu einem zweiten Blühschub von Epipactis helleborine, wogegen allerdings die deutlich kleineren Blüten sprechen. Jetzt sind sie natürlich nicht viel schlauer geworden, was wir bedauern. Aber so ist das eben in der Welt der wildwachsenden Orchideen. Im vorliegenden Falle könnte man das Gesagte auch in einem Satz zusammenfassen, den ich neulich von einem Kollegen hörte: "Bei Epipactis ist eben alles möglich". Etwas vornehmer klingt die Formulierung in Steinbachs Naturführer: "Die Art ist vielgestaltig".

Epipactis helleborine wird von verschiedenen Wespenarten bestäubt, die teilweise auch andere Arten dieser Gattung besuchen. So sollte es eigentlich gar nicht selten zur Hybridisierung kommen. Darüber streiten sich aber die Gelehrten (mal wieder). Die einen meinen, es gäbe viel mehr Übergangsformen als bekannt. Bekannt sind Hybriden beispielsweise mit E. atrorubens, leptochila, muelleri. Andere wiederum sagen der Gattung Epipactis eine geringe Neigung zur Hybridisierung nach. Problematisch ist das ganze, weil die Hybriden oft nur sehr schwer zu identifizieren sind und viele Kollegen (uns eingeschlossen) schon froh sind, wenigstens die Eltern zu erkennen. Hybriden mit anderen Gattungen sind nicht bekannt. Der Chromosomensatz beträgt 2n= 38-40.

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Stuttgart (D), 9.8.2002


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Stuttgart (D), 9.8.2002


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Varietät minor, Nordvogesen (F), 2.8.2003


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Varietät minor, Nordvogesen (F), 2.8.2003


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Varietät minor, Nordvogesen (F), 2.8.2003